Demokratie und Kultur

Vortrag von Hinrich Enderlein | Minister a.D. 

Das Thema ist so gewählt, dass sich trotz der scheinbaren Komplexität mit einem Satz dazu Stellung nehmen ließe: Natürlich geht es der Kultur in der Demokratie am besten! Aber noch ehe ich zu einer kurzen Begründung ansetzen könnte, wäre ich sicher wohl zu Recht mit Einwendungen, Protesten, vielleicht auch Beschimpfungen und im besten Fall Fragen konfrontiert. Denn das Thema ist mega geeignet, zu einigen derzeit heiß diskutierten kulturrelevanten Bereichen Stellung zu nehmen. Dabei weiß ich im Voraus, dass ich keins dieser strittigen Themen völlig abräumen kann. Und schon daran zeigt sich in Bezug auf die Kultur deutlich ein Vorteil der Demokratie gegenüber anderen Staatsformen. Autoritäre Staaten die, selbst durch ein irgendwie sogar kulturfreundliches “basta“ eine Diskussion beenden, schaden letztendlich der Kultur, indem sie ihr eine ihrer wichtigsten Grundlagen nehmen: die Meinungsfreiheit, die kontroverse Diskussion oder die Fruchtbarkeit gegensätzlicher Positionen. Aber davor muss sich übrigens auch die Demokratie hüten, dass sie allzu schnell der Forderung nach Einschränkungen, Beschränkungen oder gar Verboten oder Gesetzen nachgibt, auch wenn sie noch so sehr in den wohlfeilen Mainstream passen und Schlimmeres verhindern wollen. 

Ich steige mit einem eher strukturellen Bereich ein, der natürlich – wie immer und überall – letztendlich enorme inhaltliche Auswirkungen haben kann, den Finanzen, und beginne in der vielen noch präsenten jüngeren Vergangenheit. Als erster Kulturminister in dem kulturfreundlichen Land Brandenburg hatte ich mit den kulturellen Hinterlassenschaften der DDR zu tun. Und da war es keineswegs so – wie mache immer noch meinen – dass wir nur die Kulturwüste DDR aus dem Füllhorn westlicher Kulturförderung aufhübschen mussten. Denn die DDR hatte aus ihrem Staatshaushalt Kultureinrichtungen bis in das letzte Dorf flächendeckend institutionell finanziert. Dagegen waren plötzlich die Kommunen die Achillesfersen der Kulturfinanzierung. Trotz Einigungsvertrag, in dem vollmundig davon die Rede war, “die Kultur in der Substanz zu erhalten“, und trotz enormer Anstrengungen des damals auf Bundesebene für die Kultur zuständigen Innenministers Schäuble, konnte vieles einfach nicht erhalten werden, auch wenn wir intensiv darum gekämpft haben.

Wenn Sie mir jetzt sagen: aber inhaltlich war es doch eine Befreiung, kann ich nur ganz pragmatisch feststellen: Sagen Sie das mal den Kulturinteressierten in einer Stadt oder Gemeinde, in der gerade das Theater, das Orchester, die Musikschule oder die Bibliothek bedroht oder gar geschlossen werden sollten. Da sind Sie mit der Meinungsfreiheit sehr schnell in ganz kurzem Gras. Gut, inzwischen haben wir viel aufgeholt, aber eine strukturelle Schwäche bleibt: Diejenigen, die am nächsten an der Kultur sind, die Kommunen, bilden bei der Finanzierung weiter die Achillesferse. Die föderale Kulturzuständigkeit der Länder kann das nicht ausgleichen. In Brandenburg haben wir zu diesem Thema  zwar eine hervorragende Landesverfassung. So heißt es in Artikel 34: 

Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert. Kunstwerke und Denkmale der Kultur stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Und dann weiter: Das Land, die Gemeinden und Gemeindeverbände unterstützen die Teilnahme am kulturellen Leben und ermöglichen den Zugang zu den Kulturgütern. Soweit, so gut! Trotzdem streiten viele Kommunen ihre Zuständigkeit nach wie vor hartnäckig ab und verweisen auf die Pflichtaufgaben der Gemeindeordnung. Wer steht wohl höher, die Landesverfassung oder die Gemeindeordnung? Soviel zum Thema Verfassung und Verfassungswirklichkeit.

Als Vorsitzender des Brandenburgischen Kulturbunds bin ich übrigens selbst Leittragender westlicher Kulturarroganz geworden. Während meiner Ministerzeit – ich war übrigens noch nicht Vorsitzender des Kulturbunds – lief alles noch ganz normal: Der Kulturbund erhielt eine übliche, wenn auch geringe, institutionelle Förderung. Eine meiner Nachfolgerinnen hat das schnell geändert. Der Kulturbund war für sie eine alte DDR-Institution, die jetzt keine Daseinsberechtigung mehr hätte, geschweige denn institutionell gefördert werden könne, wie ein Verband westlicher Prägung. Es ist mir nicht gelungen ihr das kulturvolle Wirken dieses DDR-Kulturverbands verständlich zu machen. Dabei war ich immer überzeugt, dass man dieses Modell des Kulturbunds sogar in den Westen übertragen sollte. Das Ganze war übrigens keine Diskussion über Finanzen. Aber es kennzeichnet eine grundsätzliche Schwäche unserer Kulturförderung: Die institutionelle Förderung wird immer stärker zugunsten der Projektförderung eingeschränkt.  

Zum Thema Verfassung und Kultur gehört dabei auch die immer wieder erhobene Forderung nach einem Kulturminister auf Bundesebene. Angeblich steht dagegen die Kulturhoheit der Länder. Zwei Argumente sind aber viel schlagender: 1. Das jetzige Staatsministerium für Kultur und Medien läuft haushaltsmäßig unter dem Haushalt des jeweiligen Bundeskanzlers. Damit ist es bestens gegenüber den Zugriffen des jeweiligen Finanzministers geschützt. 2. Mir graut vor einem Bundeskulturminister, der – wie jüngst immer wieder zu vernehmen war – seine Daseinsberechtigung in einer Flut von Erlassen, Verordnungen, Regulierungen, ja Gesetzen erbringen soll und das sicher auch tun würde. Noch ist die Kultur einer der ganz wenigen Bereiche der Politik, die nicht bürokratisiert sind. Und das sollte so bleiben zum Wohl der Kultur.

Das Spannungsfeld zwischen Demokratie und Kultur besteht natürlich nicht nur bei den Finanzen.  Kultur war zu allen Zeiten und bei allen Staatsformen ein Feld der Auseinandersetzungen. Autokraten haben die Kultur oft bekämpft, meist nicht aus finanziellen Gründen, sondern weil sie in ihr eine Gefährdung ihrer Macht sahen, was in den meisten Fällen auch stimmte. Dabei war im Altertum die Verbannung ein beliebtes Instrument der Autokraten. Ein berühmtes Beispiel war Ovid, der von Augustus an die Küste des Schwarzen Meeres verbannt wurde und damit aus dem kulturellen Diskurs verschwand. Das ist heute erfreulicher Weise so einfach nicht mehr möglich, denn es gibt z.B. die Emigration von der aus sich wenn auch erschwert weiter arbeiten lässt. Es gibt den Untergrund. Es gibt die Medien. Und es gibt inzwischen viele technische Möglichkeiten, mit denen sich Künstler, die beim Autokraten in Ungnade gefallen sind, wehren können. 

In Demokratien dürfte das alles eigentlich kein Thema sein. Ist es aber doch. Die subtilen Möglichkeiten finanzieller Einflussnahme habe ich schon angesprochen. Sie sind aber begrenzt, solange ganz unterschiedliche kulturpolitische Meinungen bestehen, die auch auf unterschiedliche Finanzquellen zurückgreifen können. So spielen große private finanzielle Vermögen bei der Kulturförderung eine Rolle, die eine Monopolisierung staatlicher Institutionen verhindern können. Die gefährlichsten Entwicklungen, die einer freien Kulturentwicklung in der Demokratie entgegenstehen, sind aber allgemeine Trends und Meinungsmonopolisierungen in der Öffentlichkeit und in den Medien, vor allem in den sogenannten “sozialen“, die längst den Anspruch auf dieses ursprünglich schmückende Beiwort verwirkt haben. Wenn da ein Shitstorm oder eine Empörungswelle rollt, ist die Kulturfreiheit ernsthaft in Gefahr – gerade in der Demokratie.

Ein kleiner Befund am Rande: Seit einigen Tagen heißt das 3. Radioprogramm des RBB nicht mehr RBB-Kultur sondern Radio3. Mir ist nicht bekannt, dass die Kultur eine Rolle gespielt hat, als der RBB in die Schlagzeilen geriet. Gerade die Hörfunkprogramme der Dritten verdanken ihre Existenz vor allem den regionalen Kulturangeboten. Da ist es schon mehr als unverständlich, wenn die Kultur in einer Programmbezeichnung durch eine Ziffer ersetzt wird. Und das hat auch Auswirkungen auf die Programminhalte. Den Kritikern der Öffentlich-rechtlichen ist das natürlich Wasser auf ihre Mühlen. Von Kulturabbau in der Demokratie will ich trotzdem nicht sprechen. Er ist aber eine Gefahr in der Demokratie.

Aktuell beschäftigen uns andere Gefahren: Nehmen Sie den Ukrainekrieg oder den Krieg in Palästina. Seit Beginn des Ukrainekriegs gibt es bei uns eine latente Russo Phobie, die sich auch gegen russische  Künstler und Kultur richtet. Manche fragen ganz ernsthaft, wie man jetzt russische Künstler ins Programm nehmen kann, selbst nicht mehr lebende. Manche stornieren sogar den Wissenschaftleraustausch. Als ob damit der Ukraine geholfen wäre. Immerhin schwächt sich diese Tendenz mit der Dauer des Kriegs langsam ab. Noch schlimmer ist, wie der Gaza Krieg als Vorwand für einen neuen Antisemitismus genommen wird. Und das ist gerade hier in Deutschland ein ganz großes Problem. Nein, wir können und werden das nicht zulassen. Wenn man uns dafür das inzwischen zum kulturellen Kampfbegriff gewordene “cancle culture“ entgegenhält, müssen wir das ertragen. 

Dabei zeigt die Kultur selbst, dass man durchaus mit solchen Entgleisungen umgehen kann. Der Antisemitismus auf der Documenta 15 ist weitgehend in der Kulturszene selbst gelöst worden. Und die Provokationen auf der Berlinale haben sich selbst ins absolute Abseits gestellt. Wovor ich Angst habe ist, dass solche Vorfälle zum Anlass genommen werden, um mit Verboten, Regularien oder Erlassen zu reagieren und damit die Kultur insgesamt einzuschränken. Hierher gehört das genannte Stichwort Bundeskulturminister. Ich denke, die Kultur in unserer Demokratie ist inzwischen stark genug, sich gegen solche Tendenzen zu behaupten.

Ich schließe mit einem positiven Beispiel zur Kultur in der Demokratie, das gerade an diesem Ort einiges von dem beleuchtet, was ich ausgeführt habe: Eins der schönsten einschlägigen Projekte ist “Die Bibliothek der verbrannten Bücher“. Darin sollen über 300 Titel von Autoren, die während der Nazidiktatur verfemt und verfolgt wurden, systematisch zusammengestellt, neu herausgegeben und an Schulen verteilt werden. Die ersten 10 edierten Bände enthalten Werke von Salomo Friedländer, André Gide, Theodor Heuss, Franz Kafka, Gina Kaus, Erich Kästner, Jack London, Anna Seghers, Walther Rathenau und Kurt Tucholsky, deren Werke systematisch verbrannt wurden.  In einem begleitenden Dokumentationsband wird an mindestens 90 Bücherverbrennungen im Jahr 1933 an verschiedenen Orten des Landes erinnert. Auch wenn die öffentliche Unterstützung und das gesellschaftliche Engagement für dieses langfristig angelegte Projekt geringer ausfallen als erwartet, wird diese Arbeit beharrlich fortgesetzt. Inzwischen ist der edierte Bibliotheksgrundstock an 4000 Schulen in ganz Deutschland verteilt. Das beleuchtet den Umgang mit der Kultur in der Demokratie und zwar in unserer besser als Vieles andere.