Felix Mundt | Schulleiter des Gottfried-Arnold-Gymnasiums Perleberg
Sehr geehrte Damen und Herren,
politische Bildung ist eine der wichtigsten Aufgaben der Schule, aber wahrhaftig keine einfache Sache. Die größten Fragen nach den Vorzügen der Demokratie, den Prinzipien der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit, der Formen demokratischer Repräsentation und Teilhabe müssen schon 13-15-jährigen vermittelt werden, also jungen Menschen, die die Bedeutung dieser Dinge noch gar nicht ermessen können. Das Herunterbrechen dieser großen Begriffe auf die unmittelbare Lebenswelt des Freundes- und Mitschülerkreises ist auch nicht das Allheilmittel, denn das Politische, das gemeinschaftliche Handeln im Großen folgt oft anderen Prinzipien als das im Kleinen, und ein 14-jähriger ist nur noch zwei Jahre vom Wahlrecht zur Europawahl entfernt, da muss man schnell die große Bühne zeigen.
Die Ausstellung, die heute eröffnet wird, möchte einen Beitrag dazu leisten, unsere Schülerinnen und Schüler zu reflektierten Demokraten zu erziehen. Und wir als Schule nehmen sehr gern Angebote von Bildungsträgern und Stiftungen von außen an, weil die Zeit, die man der genannten Aufgabe im Unterricht eigentlich widmen müsste, im Alltag oft nicht vorhanden ist. Ein großes Problem in der politischen Bildung, ja gerade in der Demokratiebildung, liegt darin, dass Schülerinnen und Schüler als bloßen wiederzugebenden Lernstoff wahrnehmen, wovon man sich eigentlich wünschen würde, dass es gewissermaßen von Herzen, aus echter Reflexion und echtem Empfinden heraus, gesagt und geschrieben wird.
Ich hatte vor wenigen Wochen eine Klausur zu korrigieren, da ging es um die gelungene oder weniger gelungene Integration von Gast- und Vertragsarbeitern in der DDR und der alten Bundesrepublik. Was die Schüler dort im Werturteilsbereich geäußert haben, war alles sehr brav, alle haben sich grundsätzlich für Zuwanderung, für Integration, gegen Menschenfeindlichkeit und Rassismus geäußert, aber manche in einer Weise, dass ich mir als Lehrer vorkam wie vielleicht ein Pfarrer vor 150 Jahren, dem ein Schüler ein Gebet vorsagt, aber der Pfarrer merkt, das ist nur auswendig gelernt, aber nicht empfunden. Die Schüler wissen genau, was von ihnen erwartet wird, und sie wiederholen die Phrasen, die sie in den Nachrichten, in Politikerreden, teilweise auch in Schulbüchern finden. Was sie wirklich denken, trauen sie sich oft nicht zu sagen, um nicht irgendwie anzuecken, als ‚rechts‘ oder unmodern zu gelten. Dabei wüsste man es gern, ja: man muss es als Lehrer eigentlich wissen, sonst kommt kein echter Dialog zustande, der für jeden gründlichen Lernprozess unerlässlich ist, gerade wenn es um ethische und politische Fragen geht. Insofern ist der Beutelsbacher Konsens, die drei Gebote des Politikunterrichts, eine weise Richtschnur, insbesondere die Forderungen nach der Kontroversität und dem Überwältigungsverbot.
Ich habe mir die gegenwärtige Ausstellung vorab im Internet angeschaut und auch die dazu gebotenen Handreichungen angesehen. Manches hat mich zum kritischen Nachdenken gebracht, und ich hoffe, dass es auch die Schüler zum Nachdenken anregt.
Nur zwei Beispiele. Jeder Schüler kennt „MrWissen2go“ Mirko Drotschmann, ich benutze selbst hin und wieder seine kleinen Lehrfilme im Geschichtsunterricht, wenn es mal schnell gehen muss. Für die Schüler ist er eine Autorität. Er erklärt im Rahmen der Ausstellung in einem kleinen Film das Toleranzparadoxon Karl Poppers. Unter dem unmittelbaren Eindruck der nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltherrschaft schrieb Popper sinngemäß, dass die Toleranz, die notwendigerweise zu einer offenen Gesellschaft gehört, dort ihre Grenzen findet, wo man es mit Intoleranz zu tun hat. Kurz: keine Toleranz für Intolerante. Drotschmanns Argumentation lautet weiter: Rechtsextreme und Vertreter menschenfeindlicher Positionen sind intolerant, also haben sie auf Toleranz ihrerseits keinen Anspruch. Dies klingt erst einmal plausibel, enthebt uns aber nicht der Pflicht, sehr genau zu definieren, was denn eigentlich als rechtsextrem und menschenfeindlich zu gelten hat. Beides sind häufig benutzte, aber keineswegs klar definierte Begriffe.
Es gibt auch noch ein anderes Paradoxon, das Böckenförde-Dilemma. Sein Urheber, Ernst-Wolfgang Böckenförde, war ausgewiesener Staatsrechtler und Richter am Bundesverfassungsgericht. Sein bekanntes Diktum besagt in Kurzform, dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Sobald er nämlich versucht, das zu tun, ist er nicht mehr freiheitlich.
Können wir die beiden zitierten Paradoxa auflösen, widersprechen sie einander? Das wäre eine interessante Frage.
Das bringt mich auch auf ein anderes Element, das mich stutzig gemacht hat. Die Ausstellung enthält ein Bild, auf dem Wölfe um eine Wahlurne stehen, in die ein Schaf gerade seine Stimme werfen will. Die Wölfe üben Druck auf dieses Schaf aus, gegen die eigenen Interessen für seine eigene Verspeisung zu votieren. In den Handreichungen zur Ausstellung lese ich, dass mit den Wölfen die AfD gemeint sei. Die Begründung: Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke habe ja selbst in einer Rede gesagt, man habe sich entschieden, lieber Wölfe anstatt Schafe zu sein.
Die in der Literatur der Antike wurzelnde Opposition von Wolf und Lamm als Archetypen des willkürlich tötenden Starken und des klugen, aber wehrlosen Opfers wurde in der Geschichte unzählige Male rezpiert, unter anderem auch von Joseph Goebbels, der 1928 in einem Zeitungsartikel die Nationalsozialisten als Wölfe beschrieb, die in die Schafherde des Weimarer Parlamentarismus einbrächen. Man hat Höcke vorgeworfen, bewusst auf Goebbels angespielt zu haben. Es würde ins Bild passen, das die Gesamtheit seiner Reden bietet, nachzuweisen ist es wie immer schwer. Aber gerade wenn es so ist: Ist es legitim, eine fast 100 Jahre alte Symbolik rechtsextremer Provenienz in der modernen politischen Bildung für die Beschreibung der Gegenwart einzusetzen, selbst dann, wenn sie sich gegen den Rechtsextremismus selbst wendet? Dürfen Tolerante die Bildsprache der Intoleranz benutzen? Noch ein Paradox.
Viele spannende Fragen, die man anhand dieser Ausstellung diskutieren kann. Ich wünsche ihr viel Erfolg und hoffe, dass sie einen Beitrag dazu leistet, die Schülerinnen und Schüler, die sie besuchen, zu reflektierten und überzeugten Demokraten zu erziehen.